Kaspar Villiger

Ansprache von Bundesrat Kaspar Villiger

Das Jubiläum

Unser Bundesstaat wurde auf weite Strecken nach liberalem Ideengut konzipiert. Er entstand aus einer Bewegung von unten, von der Basis her, und er wurde unter Inkaufnahme politischer Risiken durchgesetzt. Die Gestaltung dieses Staates ist untrennbar mit dem Freisinn verbunden. Seine Geschichte ist eine Erfolgsstory, und die Geschichte des Freisinns ebenfalls. Wir dürfen stolz sein: Unsere liberale Idee hat sich durchgesetzt.

1989 ist der reale Sozialismus zusammengebrochen. Die auf liberalen Ideen basierenden Demokratien und Marktwirtschaften haben sich als starker erwiesen. Liberales Gedankengut hat im In- und Ausland in die meisten Parteiprogramme Einzug gehalten. Die Frage stellt sich, ob sich der Liberalismus damit endgültig durchgesetzt hat. Die Frage stellt sich weiter, ob eigentlich liberale Parteien damit entbehrlich geworden seien. Und weiter stellt sich die Frage, ob sich etwas, was sich durchgesetzt hat, noch als politische Vision eigne.

Mit Jubiläum ist es heutzutage so eine Sache: Es zahlt nicht mehr, wer eine grosse Vergangenheit, sondern es zahlt, wer Zukunft hat. Hat der Liberalismus, haben wir Zukunft? Diese Frage muss uns beschäftigen, denn befriedigtes Schulterklopfen ob der Leistungen unserer Vorgänger genügt nicht. Im Gegenteil. Wer sich im Erfolg sonnt, lauft Gefahr, die Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Erneuerung zu verlieren.

Worum geht es?

Auf eine ganz einfache Formel gebracht will der Liberalismus eine Gesellschafts- und Staatsform schaffen, die es den Menschen erlaubt, sich möglichst frei zu entfalten. Das muss das Ziel sein.

Weil Freiheit missbraucht werden kann, weil die Entfaltung des Einen die Entfaltung der Andern behindern, bremsen oder gar verunmöglichen kann, braucht es Spielregeln, braucht es Einschränkungen, braucht es den Staat.

Entfalten kann sehr vieles bedeuten: Erarbeiten von Wohlstand, Entwickeln der eigenen Talente, sich Schützen gegen die Wechselfälle des Lebens oder Mitbestimmen im eigenen Gemeinwesen.

Das Wohl der Bürgerinnen und Bürger ist das Ziel, nichts sonst, nicht das Wohl der Regierenden, der Parteien, der Wirtschaftsbosse oder der Gewerkschaften. Das bedeutet auch, dass Macht gebändigt werden muss, die staatliche Macht so gut wie die wirtschaftliche.

Der Liberalismus ist eine Denkhaltung, die immer nach Wegen sucht, um das Ziel einer freiheitlichen Wert-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu erreichen. Dabei gehen die Liberalen von der Überzeugung aus, dass die Bürger mündig sind, dass sie nur unter freiheitlichen Bedingungen ein Maximum an Kreativität und Leistung entwickeln, dass sie fähig sind, verantwortlich zu handeln und Selbstverantwortung zu übernehmen.

Leider ist der Liberalismus kein einfaches Rezept. Er verändert sich. Er hat oft Widersprüche. Die Liberalen liegen sich oft und gerne in den Haaren. Sie sind nur schwer auf eine eindeutige politische Lösung zu verpflichten. Liberalismus ist nicht zuletzt eine ständige und oft schmerzhafte geistige Auseinandersetzung. In der politischen Durchschlagskraft mag das bisweilen eine Schwache sein. Aber letztlich ist es eine Starke. Denn dieser Prozess des Suchens auf der Basis einer geistigen Überzeugung führt immer wieder zu besseren Lösungen.

Gerade weil der Liberalismus nie endgültig definiert ist, nie eine Sammlung mathematisch richtiger Regeln und Formeln darstellt, nie auch eine letzte Wahrheit ist, hat er durchaus die Qualität einer Vision.

Das Modell Schweiz

Ich habe es schon angedeutet: Viele liberale Grundanliegen konnten in unserer erfolgreichen Staatsform realisiert werden.

Die staatliche Macht wird auf mannigfache Art gebändigt, etwa durch die föderalistische Aufteilung der Staatsmacht auf verschiedene Ebenen oder durch die direkte Demokratie, welche dem Bürger ermöglicht, korrigierend und entscheidend in die staatlichen Entscheidmechanismen einzugreifen.

Die wirtschaftliche Macht wird durch den Wettbewerb entgiftet. Die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung des Gemeinwesens ist entwickelt wie nirgends sonst: Ueber die direkte Demokratie, über das Milizsystem, das mannigfache Möglichkeiten der Mitgestaltung öffnet, und über den Föderalismus, der den Minderheiten und Regionen unterschiedliche Masslösungen ermöglicht und der zwischen regionalen Gemeinwesen einen gewissen Wettbewerb der Systeme schafft.

Die Konkordanz ermöglicht die Einbindung der wichtigsten politischen Kräfte in die Verantwortung für diesen Staat.

Alles das hat gute Rahmenbedingungen für eine beispiellose politische und wirtschaftliche Stabilität geschaffen.

Nun plötzlich aber verändert sich die Welt rasant. Was sich bewahrt hat, muss nicht zwangsläufig auch für die Zukunft das Beste sein. So ist denn auch verständlich, dass viel von dem, was unsere politische Kultur ausmacht, umstritten ist.

Umstritten ist beispielsweise unsere Regierungsform.

Plötzlich wird auch die heiligste demokratische Errungenschaft, die direkte Demokratie angefochten. Die Konkordanz wird immer mehr in Frage gestellt. Der Föderalismus wird zwar nicht bestritten, aber er wird faktisch zunehmend ausgehöhlt.

Die Frage ist legitim, ob unsere Institutionen der Reform bedürfen. Dabei müssen wir allerdings aufpassen, dass wir nicht der Unzulänglichkeit der Institutionen unterschieben, was in Wirklichkeit von der Unzulänglichkeit menschlichen Handelns kommt. Die Welt ist derart kompliziert geworden, dass es einfache Lösungen nicht mehr gibt, dass viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert sind und dass ein gewisses Mass an Staatsversagen wohl unabhängig von Institutionen unvermeidlich ist.

Wir dürfen auch nicht übersehen, dass wir eines der ganz wenigen Lander sind, welches mit unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Minderheiten ein erfolgreiches, stabiles und florierendes Gemeinwesen aufgebaut hat. Das hat mit der politischen Struktur unseres Staates viel zu tun. Wir dürfen uns deshalb nicht nur fragen, was durch eine grundlegende Reform unseres Staates besser würde, sondern wir müssen auch bedenken, was dadurch gefährdet werden und ins Rutschen geraten könnte.

Ein Staat ist kein Unternehmen, das nur nach Effizienzkriterien geführt werden darf.Werte wie Identifikation, Konsens oder Geborgenheit sind ebenso wichtig.

Ich bin deshalb der Meinung, dass die Grundpfeiler unserer staatlichen Ordnung nicht in Frage gestellt werden dürfen. Sie erfüllen die liberalen Anforderungen nach wie vor optimal. Das heisst indessen nicht, dass sie nicht ständig hinterfragt werden müssten.

Die Welt hat sich dramatisch verändert. Viele Probleme können von einem einzelnen Land allein nicht mehr bewältigt werden. Internationale Zusammenarbeit wird in mehr und mehr Bereichen zwingend. Damit erhalt der Begriff der staatlichen Unabhängigkeit eine andere Qualität, er wird relativiert, und zwar, ob wir dies wollen oder nicht. Deshalb stellt sich die unangenehme Frage, ob Mitsprache in den Entscheidzentren nicht oft würdiger sei als eine von aussen erzwungener faktischer Anpassung im Namen einer immer fiktiveren Autonomie.

Anpassungen unserer politischen Mechanismen werden in Zukunft wohl unumgänglich sein. Aber eine Preisgabe alles dessen, was die "Idee Schweiz" ausmacht, scheint sich mir indessen nicht aufzudrängen. Die direkte Demokratie muss ein zentrales Element unserer politischen Kultur bleiben. Vielleicht muss man sie anpassen, muss man verhindern, dass sie zur perspektivlosen Obstruktion missbraucht. wird.  Aber im Kern dürfen wir sie nicht antasten. Ich bin sogar überzeugt, dass sie internationale Ausstrahlung hat. Vielleicht nicht bei den Regierenden, deren Macht sie beschneidet, aber bei den Völkern.

Der Föderalismus darf nicht zum rein en Lippenbekenntnis entarten. Die Grenzlinie zwischen föderalistischen und zentralen Losungen mag sich immer wieder verschieben, aber die Entleerung der föderalistischen Substanz wäre für unseren Vielvölkerstaat gefährlich.

Der Staat muss stark bleiben, aber er darf nicht glauben, dem Bürger die Lösung jedes noch so kleinen Problems abnehmen zu müssen. Der allumfassende Hochleistungsstaat scheitert. Er ist nicht finanzierbar, und er erfüllt die Erwartungen nicht, die man an ihn stellt. Deshalb verliert er notgedrungen an Vertrauen. Nach wie vor sollten wir den Satz von Montesquieu beherzigen: "Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es nötig, kein Gesetz zu machen! "

Dass auch die Wirtchaft Freiraum braucht, um ihre Leistungsfähigkeit zu entfalten, und dass nur so der Wirtschaftsstandort Schweiz attraktiv bleibt, ist für uns Literale selbstverständlich. Im Klartext bedeutet dies eine tiefe Staats- und Steuerquote und ein Sozialnetz, das wohl solid ist, aber ein leistungshemmender Anreiz schafft. Diese Banalitäten figurieren in jeder Sonntagsrede, aber die eigentlichen politischen Handlungen kontrastieren allzuoft mit den Prinzipien.

Ist die Zukunft des Liberalismus gesichert?

1989, ich wiederhole es, ist der reale Sozialismus zusammen- gebrochen. Ober aber damit endgültig überwunden ist, dessen bin ich nicht so sicher. Vieles, was ihn charakterisierte, kommt in der Politik unter anderen Titeln nach wie vor selbstbewusst daher.

So ist bei vielen Politikern ein grundlegendes Misstrauen den Marktkräften gegenüber nicht auszurotten, oftmals sogar bei Politikern mit dem liberalen Etikett. Der Glaube an die staatliche Machbarkeit geistert unbeirrt weiter umher. Die Meinung, der Bürger sei zu seinem eigenen Schutz zu bevormunden, taucht im Gewande des Gemeinwohls immer wieder auf. Statt auf den Wettbewerb der Systeme setzt man allzuoft auf Gleichmacherei und Harmonisierung.

Der Liberalismus ist auch aus einer anderen Richtung gefährdet. Es ist alles anderes als sicher, dass das ideologische Vakuum, das das Ende des Kommunismus hinterlassen hat, nun durch, liberale Ideen aufgefüllt wird. Nationalismus, ethnische Auseinanderset2ungen, Extremismen und Fundamentalismen aller Spielarten, internationales Verbrechen und dergleichen gefährden die liberale Idee wie kaum je zuvor.

Deshalb sind gerade die Liberalen, die Freisinnigen gefordert.

Die liberale Vision ist nicht überlebt. Im Gegenteil. Immer wieder müssen wir für liberale Lösungen eintreten, müssen wir bei neuen Problemen nach liberalen Lösungsansätzen suchen. Immer wieder auch müssen wir uns kritisch fragen, ob unsere Politik liberalen Ansprüchen eigentlich genüge, müssen uns selber hin und wieder den liberalen Spiegel vorhalten oder vorhalten lassen.

Gerade in diesen Septembertagen erinnere ich daran, dass Extremismus in keiner Form, liberal sein kann. Dazu zähle ich auch die Rassendiskriminierung. Wir haben eine grosse Tradition im harmonischen Zusammenleben von Kulturen, Sprach- gruppen und Minderheiten. Deshalb sind wir gewiss kein Volk von Rassisten, Gesetz hin oder her. Aber allem Extremem müssen wir eine klare Absage erteilen. Deshalb wäre ein Nein zum Antirassismusgesetz ein Zeichen, das allen meinen liberalen Ueberzeugungen widerspräche.

Die Freiheit hat ihren Preis

Freiheitliche Losungen sind bessere Lösungen. Aber die Freiheit hat immer ihren Preis. Freiheit beinhaltet per definitionem die Möglichkeit des Missbrauchs, sonst ist sie keine Freiheit. Aber nicht alles, was erlaubt ist, darf immer auch getan werden. Sonst wird der Ruf nach Einschränkung der Freiheit laut. Der Liberalismus bedarf mit anderen Worten eines ethischen Fundaments, bedarf der Werte. Deshalb heisst der Preis der Freiheit Verantwortung, und zwar Selbst- und Mitverantwortung. Das bedeutet aber auch, dass Politik auch eine Frage der Ethik, der Werte ist. Auch die Demokratie funktioniert nur, wenn die Bürger bei ihren Entscheiden an der Urne immer auch das Gemeinwohl in ihre Überlegungen einbeziehen. Dafür haben sie gerade in unserem Land den Tatbeweis immer wieder erbracht. Freiheit und Verantwortung sind komplementär, bedingen einander, sind ohne einander nicht zu haben.

Schluss

Liebe Parteifreundinnen, liebe Parteifreunde, der Freisinn hat nicht nur Vergangenheit, er hat auch Zukunft. Mehr Probleme denn je harren der Losung. Und nur liberale Lösungsansatze haben eine Chance auf Erfolg. Das fordert uns. Heute dürfen wir zufrieden ein Jubiläum feiern. Ab morgen ist wieder harte politische Arbeit gefragt. Zur Freiheit gibt es viele Fragen. Wir müssen dazu überzeugende Antworten formulieren. Dazu fordere ich Sie auf!